Anguckallergie

Inez Maus
Blogbeitrag 30. Mai 2022
Neue liebenswerte Störenfriede
© Inez Maus 2014–2024
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Seit ich zwei Blogartikel veröffentlicht habe (Ein liebenswerter Störenfried und Ein ziemlich bestes unmoralisches Angebot), die sich mit meinen zum Teil komischen Erlebnissen bei Veranstaltungen beschäftigt hatten, erreichten mich immer wieder Bitten nach einem Bericht über entsprechende Begebenheiten bei Online-Veranstaltungen. Inzwischen durfte ich – wie die meisten – seit zwei Jahren reichhaltige diesbezügliche Erfahrungen sammeln. In diesem Artikel soll es aber nicht um technische Probleme oder das Lösen dieser gehen, sondern um die menschlichen Facetten dieser Zusammenkünfte. Die Art, wie sich die Teilnehmenden in einer Online-Veranstaltung präsentieren, sagt viel über die jeweilige Persönlichkeit aus. Denn sie kommen nicht in einen fremdem Raum, an den sie sich anpassen müssen, sondern sie werden in ihrem Zuhause besucht. Einige zeichnen ihren Hintergrund weich oder wählen virtuelle Hintergründe, andere gewähren großzügige Einblicke in ihre Wohnräume. Sehr beliebt für die Teilnahme an Online-Veranstaltungen scheinen Dachkammern zu sein, denn Dachschrägen fehlen eigentlich in keinem solchen Meeting. An Online-Veranstaltungen kann man praktisch überall teilnehmen, vorausgesetzt man verfügt über ein geeignetes Gerät, Strom und Internet. Weniger geeignet für die Teilnahme an einer Fortbildung ist ein Handy. Das hielt allerdings eine Teilnehmerin nicht davon ab, ein abendliches Seminar zu besuchen, während sie im späten Herbst in ihrem Auto auf ihren Sohn wartete, der beim Schwimmkurs war. Sie beklagte, dass sie die Folien der Präsentation nicht gut lesen könne. Daran änderte sich auch nichts, als sie versuchte durch wechselnde Beleuchtung das Problem zu beheben. Teilnehmende, die nicht in ihrem Auto sitzen, machen es sich oft in ihrer häuslichen Umgebung bequem. Manche liegen auf der Couch, wahlweise in eine Decke eingewickelt oder einen Oberkörper im Naturpulli präsentierend, andere sitzen in einer bequemen oder auch schmerzhaft anmutenden Yoga-Position vor dem Bildschirm. Während die Couchnutzer gelegentlich zur Chipstüte greifen oder Popcorn knabbern, freue ich mich, dass alle Mikros stummgeschaltet sind. Die Yoga-Liebhaberinnen schlürfen Getränke in gesunden Farben, wobei ich nur ahne, dass sie schlürfen, denn auch sie haben ihre Mikros deaktiviert. In Online-Fortbildungen gibt es neben den Teilnehmenden und deren Kindern auch allerlei Getier zu sehen. Hunde, Katzen und Wellensittiche sind erwartbare Mitbewohner. Ein auf einer Sessellehne sitzender Papagei – auch er ist stummgeschaltet – kann eigentlich nur noch von einem schmusenden Äffchen überboten werden. Alle diese liebenswerten Störenfriede fesseln die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden nur für kurze Zeit. Nach ein paar Bemerkungen im Chat – von lustig bis neugierig – wenden sich aus meiner Erfahrung die Teilnehmenden den Inhalten der jeweiligen Fortbildung zu. Ähnlich verhält es sich mit liegenden, schaukelnden oder verknoteten Teilnehmenden – auch sie werden in der Regel sofort aktiv, wenn sie eine Aufgabe erhalten, in die Gruppenräume verschoben werden oder Diskussionsbedarf haben. Gruppenarbeiten erweisen sich dann als schwierig, wenn mehrere Personen vor einem Bildschirm teilnehmen, denn sie können dann nicht in verschiedene virtuelle Räume verteilt werden, sondern schmoren somit im sprichwörtlichen eigenen Saft. Virtuelle Konferenzräume, sogenannte Breakout-Rooms, bereiten aber auch autistischen Menschen oft große Probleme, denn das ungeplante Zusammentreffen mit wahllos zusammengestellten Teilnehmenden ist unvorhersehbar, nicht planbar und birgt eine Menge an sozialem Stress. Es ist somit vergleichbar mit Gruppenarbeiten zwischen physisch anwesenden Menschen. Nicht nur autistische Menschen können Probleme mit Online-Veranstaltungen bzw. mit bestimmten Aspekten dieser haben, sondern auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen. Eine junge Frau verließ eine Fortbildung immer wieder im Abstand von wenigen Minuten, um dann erneut um Einlass zu bitten. Ich vermutete Probleme mit dem Internet. Am Ende der Fortbildung teilte die junge Frau mit: „Ich leide schwer an ADHS.“ Sie schloss mit der Erklärung: „Online-Fortbildungen sind nichts für mich.“ Auf meine Frage, warum sie nicht aus dem Zimmer gegangen ist, anstatt das Meeting jedes Mal zu verlassen, antwortete sie: „Um runterzukommen, mussten alle weg sein. Richtig weg sein.“