Geschichten über Geschwisterkinder?
© Inez Maus 2014–2024
Geschichten vermögen Kindern die Welt zu erklären. Das gilt auch für schwierige Themen wie Behinderung im
Allgemeinen und Autismus im Speziellen. Um Kinder einander näherzubringen und die wechselseitige Sicht auf
ein bestimmtes Thema zu ermöglichen, richten sich die Geschichten in meinem Buch „Geschichten für Kinder
über Autismus“ sowohl an autistische als auch an nicht-autistische Kinder, also beispielsweise an alle Kinder
einer Familie, in der ein autistisches Kind lebt, an eine Schulklasse oder an eine Kita-Gruppe. Kinder, die den
Alltag gemeinsam erleben, insbesondere Geschwister, sollten auch gemeinsam darüber sprechen, sich
gemeinsam damit auseinandersetzen.
Vor einigen Tagen erhielt ich eine E-Mail von einer Fachperson, in der ich im Kontext meines
Geschichtenbuches gefragt wurde, ob ich eine Geschichte kenne, die autistischen Kindern vermitteln kann, wie
es ihren nicht-autistischen Geschwistern geht. Um es vorwegzunehmen: Ich kenne eine solche Geschichte
nicht.
Seitdem beschäftigt mich die Frage, was eine solche Geschichte enthalten sollte oder könnte, denn die Gefühle
der Geschwisterkinder eines autistischen Kindes sind oft ambivalent und hängen von vielen Umständen ab.
Zuerst einmal spielt die Ausprägung der autistischen Symptome eine Rolle beim Auftreten von sogenannten
negativen und positiven Gefühlen bei den nicht-autistischen Geschwisterkindern. Des Weiteren hängen die
Gefühle der Geschwisterkinder – so wie die aller Kinder – natürlich von ganz konkreten Erlebnissen, von deren
Begleitumständen, von der Einmaligkeit oder Häufigkeit der Erlebnisse, von anwesenden oder abwesenden
Personen und vielen anderen Dingen ab.
Welche Gefühle können bei Geschwisterkindern auftreten?
Eltern eines autistischen Kindes, die von mir nach den für sie schwierigen Gefühlen der Geschwisterkinder
befragt wurden, nannten unter anderem folgende:
•
Geschwisterkinder beneiden das autistische Kind oft um dessen Therapien, den Assistenzhund oder die
Schulbegleitung, aber auch um Fördermaterialien, die Geschwisterkinder häufig interessant finden.
•
Sie empfinden das autistische Kind als nervenraubend, besonders dann, wenn dieses Kind viel Lärm
produziert, das Geschwisterkind körperlich bedrängt oder strenge Maßnahmen zur Reizreduzierung in der
Familie praktiziert werden (müssen). In der Regel ist dies ein gegenseitiges Gefühl, denn das autistische
Kind leidet oft unter sensorischen Reizen, welche die Geschwisterkinder produzieren.
•
Scham wegen des autistischen Kindes tritt häufiger in Familien auf, die ein stark beeinträchtigtes
autistisches Kind haben.
•
Wut oder Hass auf das autistische Kind entstehen bei Geschwisterkindern oft, weil bestimmte Dinge nicht
so ablaufen wie in ihnen bekannten Familien. Solche Reaktionen treten auf, wenn der geplante Ausflug
(wieder einmal) verschoben werden muss, wenn die Eltern keine Zeit für die Geschwisterkinder haben …
•
Rivalität unter Geschwisterkindern – solange sie ein gesundes Maß nicht überschreitet – fördert die
Fähigkeit, Stress zu bewältigen, und das Vermögen, Kompromisse zu schließen. Wenn das autistische Kind
beispielsweise aufgrund seiner Spezialinteressen auf einem Gebiet besondere Leistungen vollbringt, dann
versuchen Geschwister oft, dem nachzueifern, haben aber meist keine reale Chance, an diese Leistungen
heranzureichen. Hier ist es Aufgabe der Eltern, den Geschwisterkindern andere Beschäftigungen oder
Hobbys nahezubringen und ihre Leistungen auf diesen Gebieten entsprechend zu würdigen.
•
Geschwister sind gelegentlich auch traurig, weil sie sich einen Bruder oder eine Schwester ohne
Behinderung wünschen. Da Autismus aber nicht nur eine Behinderung ist, sondern ebenso ein wesentlicher
Teil der Persönlichkeit, der auch Stärken und Fähigkeiten mit sich bringt, teilen viele autistische Menschen
diesen Wunsch oft nicht. Älteren Geschwistern kann dies in Gesprächen vermittelt werden.
•
Hilflosigkeit entsteht bei Geschwistern, wenn Dinge wie Kommunikation nicht funktionieren, oder wenn
Geschwister das Gefühl haben, die Eltern nicht genug unterstützen zu können.
Geschwister, mit denen ich über die angenehmen Gefühle in Bezug auf ihre autistische Schwester oder ihren
autistischen Bruder geredet habe, erzählten beispielsweise Folgendes:
•
Sie lieben ihren Bruder oder ihre Schwester. Auf die Frage, warum sie so empfinden, antwortete eine
Schwester: „Na einfach, weil er da ist.“
•
Oft bewundern sie das autistische Kind für seine speziellen Fähigkeiten. Geschwisterkinder, die über
Autismus aufgeklärt sind, bewundern das autistische Kind aber auch dafür, wie es trotz seiner Schwierigkeit
im Leben zurecht- oder vorankommt.
•
Aus den eben genannten Gründen wird gelegentlich auch Stolz auf das autistische Kind genannt. Das geht
in manchen Fällen – wenn die autistischen Symptome dem Asperger-Syndrom entsprechen – sogar so weit,
dass sich das Geschwisterkind wünscht, ebenfalls autistisch zu sein. Bei sehr jungen Geschwistern kann
dieser Wunsch unabhängig von der Stärke der Symptome aber auch aus dem Wunsch nach
Aufmerksamkeit auftreten.
•
Geschwister empfinden das autistische Kind auch als Vorbild, beispielsweise dann, wenn das autistische
Kind keinen Neid und keine Eifersucht entwickelt. Sie halten dies fälschlicherweise für eine charakterliche
Stärke und eifern dem nach.
Wenn einem autistischen Kind die Gefühle der Geschwisterkinder erklärt werden sollen, tun sich einige Hürden
auf. Autistische Menschen haben Schwierigkeiten mit dem Erkennen und dem Ausdrücken von Emotionen.
Aufgrund dessen wird autistischen Menschen oft unterstellt, sie wären empathielos. Empathie beschreibt die
Fähigkeit, auf Gefühle anderer Menschen reagieren zu können. Studien zufolge sind autistische Menschen in
ihrer kognitiven, jedoch nicht in ihrer emotionalen Empathie eingeschränkt. Das bedeutet, sie haben
Schwierigkeiten, Gefühle bei anderen zu erkennen und zu benennen, aber nicht damit, mitfühlend und
anteilnehmend zu reagieren. Das erklärt, warum autistische Kinder häufig auf emotionale Situationen jeglicher
Art in der Familie mit auffälligem Verhalten reagieren. Wenn umgebende Personen ihre Gefühle oder die
Gefühle anderer korrekt kommunizieren, also alters- und bedarfsgerecht benennen, beschreiben und erklären,
lassen sich solche Situationen immer besser auflösen. Das setzt voraus, dass das autistische Kind
grundlegendes Erfahrungswissen über die eigenen Gefühle bereits erlangt hat. Beim Erklären der Gefühle der
Geschwister ist es sinnvoll, mit Vergleichen aus dem eigenen Erleben zu arbeiten. Dem autistischen Kind kann
beispielsweise erklärt werden, dass sich das Geschwisterkind in der Situation X genauso fühlt, wie das
autistische Kind eine geräuschbelastetste Situation wahrnimmt.
Welcher der aufgezählten Aspekte sollte nun in einer Geschichte, die dem autistischen Kind die Gefühle der
Geschwister erklärt, thematisiert werden? Und wie fühlt sich das autistische Kind, wenn eine solche Geschichte
an es herangetragen wird?
Eine Geschichte (oder mehrere), die dem autistischen Kind die Gefühlswelt der Geschwisterkinder zu erklären
versucht, hat therapeutischen Charakter und somit nicht das Potenzial, mit Hilfe einer Erzählung etwas
Gemeinsames und Verbindendes zu finden. Sie trennt die Geschwister, anstatt sie zu verbinden. Daher sehe
ich es als einen guten Weg an, den Kindern eine Geschichte vorzulesen, in der sich alle Kinder wiederfinden,
und hinterher über die Gefühle und Wahrnehmungen der einzelnen Parteien zu reden.
Zum Weiterlesen:
Haben Sie Ihre Kinder konsequent erzogen?
Das selbst gemachte Therapie-Geschwisterkind