Der Streit um den heiligen Baum (2/3)
© Inez Maus 2014–2025
Dies ist der zweite Teil eines Gastbeitrages meines Sohnes Benjamin.
hier geht es zum ersten Teil
Dies erstickte den Streit, doch Meisterin Krummohr sollte in den nächsten Wochen, während draußen auf der Straße
sich der grünleuchtende Schnee ansammelte, drinnen in ihrer Werkstatt die Glut nachglühen sehen. Zwar gingen ihr
Lehrling und ihr Geselle weiterhin gewissenhaft ihrer Arbeit nach, doch der Umgang zwischen den beiden war eindeutig
abgekühlt, auf das Notwendigste reduziert. Dies ließ die Seele der graufelligen Hasenfrau frösteln, denn die beiden
hatten sich gut verstanden, seit sie im Sommer bei ihr angefangen hatten. Sie ergänzten sich gegenseitig: Der aus dem
benachbarten Gotland angereiste Ferdinand hatte nicht gezögert, seine Wanderjahre auch damit zu frönen, indem er
den jüngeren Gaston an seinem Gesellenwissen teilhaben ließ. Der Lehrling dafür hatte dem Älteren, der aus einem
Bergstädtchen stammte, beim Zurechtfinden in der großen Stadt geholfen. Eine wunderbare Freundschaft schien zu
gedeihen und es wäre zu schade, wenn diese wegen eines dummen Streites verwelken würde.
Nur noch eine Woche verblieb der frostigen Nacht, um noch tiefer in den Tag zu kriechen, bevor die
Wintersonnenwende sie nach und nach zurückdrängen würde. Aber auch wenn die Sonne selbst sich noch zurückhielt,
an diesem Abend hielten Lichter und Gelächter die Finsternis in Schach. Denn mit dem Fest so nahe wurde der
Julmarkt reichlich besucht. Väter und Mütter wurden von aufgeregten und eifrig Bratäpfel und Lebkuchen mampfenden
Kindern zwischen den vielen Ständen und Zelten umhergezogen, während eng aneinander gekuschelte Pärchen mit
dampfendem Glühweintassen in den Händen verträumt den geschmückten Julbaum hochblickten, bis zu seiner Spitze,
wo in Gestalt eines gläsernen Radkreuzes die kommende Sonne thronte.
Blicken tat auch Ferdinand zu dem leuchtenden Tannenbaum. Oft hatte er dies seit dem Streit getan und er hatte dabei
finster und vergrämt ausgesehen. Zumindest anfangs, doch dann hatte Gaston immer mehr den Eindruck bekommen,
dass der Geselle eher nachdenklich wirkte. Auch an diesem Abend haftete sein Blick schwer an den Zweigen der Tanne,
als der Lehrling zögerlich neben ihn an das Fenster trat: „Ferdinand, ich muss mich bei dir entschuldigen.“ Der Geselle
ließ nicht vom Julbaum ab, als er fragte: „Wegen unseres Streits vor ein paar Wochen?“ „Genau wegen dem“, bestätigte
Gaston. „Ich habe nachgelesen. Was du sagtest, stimmt. Der Julbaum … ist wahrhaftig eine Abkupferung des
Weihnachtsbaumes. Es tut mir leid, dass ich dich einen Lügner geschimpft habe.“ „Und mir tut es leid, dass ich deine
Vorfahren Räuber nannte“, erwiderte Ferdinand und richtete nun ein schwermütiges Lächeln an den Lehrling. „Und den
Julbaum eine Abkupferung ...“ „Aber … das entspricht doch der Wahrheit?“, stammelte Gaston verwundert Worte, die
ihm schwerfielen. Anstatt gleich eine Erklärung zu geben, schritt Ferdinand vom Fenster weg und fragte ihre
Lehrmeisterin, die gerade aus Drähten das Skelett einer neuen Wasserpuppe zusammenfeuchtete: „Frau Krummohr,
ginge es in Ordnung, wenn ich und Gaston heute etwas früher Schluss machen, um den Julmarkt zu besuchen?“
Wenig später folgte ein verdutzter Gaston Ferdinand zwischen den Ständen und sollte noch immer keine Antwort
bekommen, denn der Geselle deutete stattdessen auf einen bestimmten Stand: „Komm, lass mich dir einen Glühwein
spendieren.“ Trotz seiner Verwirrung sagte Gaston dazu nicht Nein und schon standen sie in einer kleinen Schlange vor
einem Stand an, der „Erkälteter Dionysos“ verkaufte. Ein Glühwein, dessen Rotwein in dem warmen Hellenischen
Großreich gereift war, der anschließend nach Wendel importiert wurde, um hier nach örtlicher Art mit Kräutern verfeinert
zu werden. „Ah, er schmeckt genau wie zuhause“, verkündete Ferdinand, nachdem der erste Schluck seine Mundhöhle
erwärmte. „Den trinken wir in der Familie immer zu Weihnachten. Mein Vater bestellt ihn ausschließlich dafür jedes Jahr,
ganz gleich, wie schief uns dafür die Nachbarn angucken.“ „Warum sollten sie das wegen Glühwein tun?“, konnte
Gaston nicht ganz folgen, worauf ihn der Geselle beim weiteren Schlendern erzählte: „Nun, ich komme aus einem
kleinen Städtchen in den Bergen des Erzdrachen, wo überwiegend Christen leben. Meine gesamte Kindheit war damit
im Winter von dem Weihnachtsfest geprägt, wenn wir den Geburtstag des Messias feiern.“ Der Blick Ferdinands wurde
selig. „Es kam immer die gesamte Familie zusammen. Nicht nur meine Eltern und Geschwister und die Großeltern,
sondern auch die Onkel und Tanten, sowie meine vielen Vettern und Basen.“ Die Seligkeit lichtete sich. „Doch dieses
Jahr werde ich nicht mit ihnen gemeinsam vor dem Weihnachtsbaum sitzen.“ „Warum bist du dann aber nicht nach
Hause gefahren?“, wunderte sich Gaston, worauf der Ferdinand stehen blieb: „Weil ich doch auf meiner Gesellenreise
bin. Mit Absicht kam ich im Sommer hierher, damit ich im Winter von der Kunst – und nicht nur die von den
Wasserpuppen – lernen kann, die in Vitrotis zum Fest ihre volle Pracht entfaltet.“ Er deutete auf einen nahen Stand, der
kleine Porzellanfigürchen verkaufte. „Auch wenn ich wusste, dass ich viel Heidnisches sehen würde, so freute ich mich
auch, etwas anderes zu sehen, was ich nicht aus meiner kleinen Heimat kenne. Doch als endlich der Herbst endete und
die festliche Zeit begann … wirkte vieles so vertraut, aber auf eine falsche Art und Weise.“ „Etwa weil da ein
Weihnachtsbaum steht …“, deutete Gaston hin zur geschmückten Tanne, „…, der aber ein Julbaum genannt wird?“ „Ja,
aber nicht nur deswegen“, nickte Ferdinand. „Wir hingen zuhause überall kleine Engelsfigürchen auf, …“ Sie kamen an
einem Stand vorbei, von dessen Dächlein im kalten Winterwind niedliche Figürchen in Form von Rüstungen tragenden
Mädchen tanzten. „… hier schweben aber hingegen Walküren und Harpyien. Anstatt des Sterns von Bethlehem glitzern
mir überall Radkreuze entgegen. Und anstatt des heiligen Nikolaus …“ Ferdinand blieb vor einem Stand stehen, der
Lebkuchen verkaufte, die allesamt mit einer das Antlitz Thors tragenden Oblate verziert waren. Wobei, wenn man genau
hinsah, konnte man hinter ihm auch den Loki erkennen. „… bringt Thor die Geschenke“, beendete er seinen Satz.
Schluss folgt am nächsten Advent
Bis dahin zum Weiterlesen:
In der Adventszeit 2021 wurde die Geschichte von Freyas Gunst veröffentlicht.
In der Adventszeit 2023 wurde die Weihnachtsgeschichte aus Mora veröffentlicht.
Auf Benjamins Blog “Blogpost aus Mora“ finden Sie weitere Geschichten
mit philosophischen Reflektionen über die Götterwelt.