Der Streit um den heiligen Baum (3/3)
© Inez Maus 2014–2025
Dies ist der dritte Teil eines Gastbeitrages meines Sohnes Benjamin.
hier geht es zum ersten Teil
„Brauchst nicht betrübt sein, mein Junge“, sprach ihn plötzlich die Verkäuferin an. „Der Nikolaus kommt gleich wieder.“
„Wie meinen?“, fragte Ferdinand überrascht, worauf man ihm verriet: „Wir hatten gerade viele von diesen verkauft und
mein Mann muss erst … ah, da kommt er schon.“ Flink schob dieser ein Blech voller Nikoläuse neben die Thors. Noch
geschwinder waren Lehrling und Geselle anschließend zum Kauf zweier Lebkuchen überredet worden, sodass die
beiden etwas ratlos diese in der einen und den Glühwein in der anderen Hand dastanden. „Ist das nicht auch etwas, was
ihr Christen euch erdacht habt?“, blickte Gaston nachdenklich auf seinen mit dem Thor, bevor er zu Ferdinands mit den
Nikolaus schielte. „Hatte sich doch irgendein König von euch ausgedacht. Deshalb nennt man doch diese eine Sorte
Königlein.“ „Ja, und meine Eltern nutzten dies immer als Beispiel dafür, wie ihr Heiden angeblich unsere Traditionen und
Bräuche stehlt und sie missbraucht“, meinte Ferdinand, ratlos sein Speis und Trank ansehend. „Dass wir das wahre Fest
hätten, während ihr es verschandelt habt. Doch wie passen dann Lebkuchen und Glühwein herein? Die wird es doch
wohl kaum zu Jesus‘ Zeiten in Jerusalem gegeben haben …“ „Nun, die dürften damals in der Wüste ihren Wein eher
kühl genossen haben“, stimmte Gaston zu. Ferdinand richtete seinen Blick hoch zum Julbaum: „Mir dämmert es auch
jetzt, dass ich nicht einmal weiß, warum überhaupt ein geschmückter Tannenbaum so wichtig für Weihnachten ist.“ „Oh,
das kann ich dir sagen“, offenbarte Gaston. „Das hängt mit dem Paradiesspiel zusammen. Wo ihr Christen diese
Geschichte mit dem Apfel nachspielt.“ „Du meinst Adam und Eva im Paradies?“ „Ich glaube, ja. Auf jeden Fall brauchte
man einen Baum, der den Baum des Lebens spielte. Und da die Tanne der einzige ist, der im Winter noch grüne Nadeln
trägt, nahm man sie. Und aus dieser Tanne wurde dann der Weihnachtsbaum.“ „Dann ist es also ein Brauch, der einer
improvisierten Lösung entsprang“, begriff Ferdinand und Gaston ergänzte: „Und der von meinen Vorfahren gemaust
wurde, weil er wohl so viel ausdrückt, was uns selbst bewegte. Denn ganz gleich, ob der Baum da nun der Baum des
Lebens ist oder der Weltenbaum oder welcher Baum auch immer … ist er nicht für uns alle ein Licht in der winterlichen
Dunkelheit, welches uns gemeinschaftliche Wärme verspricht?“ „Wonach wir uns alle im kalten Norden sehnen“, begriff
Ferdinand. „Gleich welche Weltvorstellungen wir haben oder welche Götter wir verehren, … wir bibbern allesamt in den
gleichen Breitengraden. Deshalb trinken wir warmen Glühwein und essen leckere Lebkuchen, die eine ganze Jahreszeit
lang halten. Die perfekte Winternahrung.“ Sogleich biss er hinein, den Nikolaus köpfend. Gaston tat lächelnd das
Gleiche mit seinem Thor, bevor er weiter überlegte: „Sind Bräuche nicht letztendlich eine Sprache, mit der wir
gemeinschaftliche Gefühle ausdrücken?“ „Und wie Leihwörter übernehmen wir sie von anderen, wenn unsere Sprache
allein noch nicht etwas ausdrücken kann“, überlegte Ferdinand, dann strahlte sein Lächeln hoch zum Julbaum. „Jetzt
verstehe ich es. Was mich geplagt hatte. Ein Teil von mir dachte die ganze Zeit, dass dieser Baum gestohlen ist. Doch
ein anderer von mir wollte einfach nur denken, dass er schön ist. Dass er mich an Zuhause erinnert. Und das tut er.
Nicht, weil er gestohlen wurde, sondern weil er mit mir spricht. Mit uns allen.“ Ein nachdenklicher Moment. „Könnten wir
etwas zurückgehen?“
Gaston sah kein Anlass zu einem Nein, wollte aber wissen, warum. Ferdinand erklärte es ihm, während sie zwischen
den Ständen zurückschritten: „Meine Mutter erzählte mir immer, dass der Nikolaus eine Schnecke als Gehilfin hat.“ „Eine
Schnecke?“, wiederholte Gaston überrascht. „Die sind doch aber so langsam.“ „Ja, deshalb musste die
Weihnachtschnecke auch schon immer im Frühling mit den Planen anfangen, damit sie alle Geschenke rechtzeitig
bringen konnte. Doch wenn ein Junge, wie ich zum Beispiel, unartig ist, bekommt sie Bauchschmerzen und kann nicht
kriechen, sodass sie vielleicht zu spät kommt.“ „Ach, mein Vater erzählte etwas Ähnliches“, verriet Gaston. „Dass, wenn
ich meine Erbsen nicht aufesse, auch Thors Widder mäkelig sein würden. Und dann könnten sie nicht den Schlitten mit
den Geschenken ziehen.“ „Ein Brauch, der mich als Kind das Grausen lehrte“, lachte Ferdinand. „Doch nun will ich ihn
nicht missen. Vorhin sah ich ein Figürchen, welches mich daran erinnert, doch ich entschied mich gegen einen Kauf.“
„Ah, wegen den Hörnern“, begriff Gaston, denn der Stand mit den Figürchen kam in Sicht. Zuvor hatte der Lehrling den
ganzen Tierfigürchen nicht viel Beachtung gewidmet. Nuh sah er aber, dass es sich um Hunde, Katzen, Schneespinnen,
Hasen und andere Tiere handelte, die allesamt Widderhörner trugen. Sicher von der Mode inspiriert, bei der man
Weggefährtentieren zur Festzeit Stoffhörner aufsetzte, sodass sie ein bisschen wie Thors Steinböcke anmuteten.
Unter den Gehörnten befand sich auch eine kleine Schnecke, die sogleich von Ferdinand gekauft wurde und der sie nun
in der Hand hielt und ihr über die Hörner strich: „Ja, ich dachte, dass wäre zu teuflisch. Doch wenn man darüber
nachdenkt, macht es doch irgendwie Sinn, dass eine Schnecke, die trotz ihrer Langsamkeit fest entschlossen ist, die
Geschenke rechtzeitig zu bringen, einen starken Kopf braucht.“ „Wer weiß? Vielleicht wird das ja ein fester Brauch in
deiner Familie und unter Christen“, meinte Gaston. „Und dann werden meine Leute es mausen und in ein paar Jahren
streitet man sich darüber, wem die gehörnte Schnecke gehört.“ „Und ein paar werden sich am Kopf kratzen und fragen,
was zum Teufel sie überhaupt mit Weihnachten oder dem Julfest zu tun hat“, ergänzte Ferdinand, worauf die beiden
herzlich lachten.
Das Lachen lockte eine junge Frau an, die in ihren gut eingepackten Armen eine in Leinen gehüllte Puppe trug.
„Ferdinand, Gaston! Schön euch hier zu sehen!“, erkannte Annika, die Puppenspielerin, die beiden wieder und kam auf
sie zu. Hierbei verrutschte das Leinen, sodass der Kopf der Puppe sichtbar wurde: Es war eine Frau, die sowohl eine
blaue Haube als auch einen Heiligenschein trug. „Hast du da etwa eine Maria in den Händen?“, fragte Ferdinand
überrascht, worauf die Puppenspielerin warnend ihren Zeigefinger auf die Lippen legte: „Pst, leise. Du verrätst noch den
Kindern die Überraschung.“ Hastig zog sie das Leinen wieder zurück. „Wir haben für unser Thorspiel dieses Jahr die
Idee gehabt, dass er und Loki sich am Ende so sehr verfahren mit dem Schlitten, dass sie in Bethlehem landen, gerade
wenn die Drei Könige das Christkind besuchen. Thor schenkt dem Kleinen dann einen Lebkuchen“, flüsterte sie rasch
den beiden heimlich zu. „Wir haben gleich eine Vorstellung. Wollt ihr mitkommen?“ „Nur zu gern“, nahm Ferdinand an.
„Solch ein Krippenspiel habe ich noch nicht gesehen. Das kann ich mir nicht entgehen lassen.“
Zum Weiterlesen:
In der Adventszeit 2021 wurde die Geschichte von Freyas Gunst veröffentlicht.
In der Adventszeit 2023 wurde die Weihnachtsgeschichte aus Mora veröffentlicht.
Auf Benjamins Blog “Blogpost aus Mora“ finden Sie weitere Geschichten
mit philosophischen Reflektionen über die Götterwelt.